„ausgedient“ – Äu-Geschichte

Stolz und aufrecht war mein Leben.
Fast 60 Jahre bin ich alt, habe mein ganzes Leben in Witzhelden verbracht, am sogenannten „Heiligenstock“.
Zu meinen Füßen saftige, grüne Weiden mit Kühen und Pferden, Feldwege und das Dorf Witzhelden, mit seinem schönen Bergischen Dorfkern, schwarz-weißen Fachwerkhäusern und einer Bauernbarock-Kirche aus dem 12. Jahrhundert.
Diese Kirche lag damals auf dem Weg vom Kölner Dom, über Altenberg und über Witzhelden hinweg, zu Schloss Burg, wo die Grafen von Berg residierten.

Ich habe eine wunderbare Aussicht weit ins Bergische Land hinein und in die Rheinische Tiefebene. Zur einen Seite Richtung Köln, bei klarer Sicht bis zum „Siebengebirge“ und weit in die Eifel hinein. Zur anderen Seite bis Düsseldorf und darüber hinaus, bis zum Niederrhein. Das Bergische Land liegt mir zu Füßen.
Ich blicke über die Wupper hinweg, über Solingen und Remscheid und bis weit hinter Wuppertal, wo in Langenberg mein Kollege, der nächste Sendemast fürs Fernsehen, steht.
Ja, ich alleine war für die Fernsehübertragung verantwortlich, für eine ganze Region.

„Äu“ ist mein Name, nach dem alten Witzheldener Bürgermeister August WELTERSBACH.

Aber das war einmal.

Seit ein paar Jahren werde ich leider nicht mehr gebraucht, weil sich alles geändert hat.
Vor einiger Zeit haben sie meine 16 Meter hohe Funkspitze abgenommen.
Mit einem Hubschrauber wurde sie herab gelassen.
Trotzdem blicke ich noch voller Stolz über das Land.
Die Menschen wissen genau Bescheid, in welche Richtung ihre Heimat liegt.
„Da! „, sagen sie, „da ist Witzhelden, bald sind wir zu Hause!“
Wenn sie aus dem Urlaub kommen, entbrennt zwischen den Kindern ein regelrechter Wettbewerb: „da, ich habe IHN zuerst gesehen, ich bin erster!“
So geht es Jahr ein Jahr aus. Ich bin halt unser höchstes Wahrzeichen mit über 200 m Höhe. Außerdem bin ich sicher das meist fotografierte Witzheldener Wahrzeichen, noch vor unserer Kirche, dem „Alten von Berg“.
Die Menschen gehen hier spazieren und wandern. Der Witzheldener Obstweg führt an meinem Fuß vorbei.
Einmal im Jahr findet ein Drachenflugfest statt und an Silvester verbringen viele Menschen den Jahreswechsel mit mir, weil man auf Köln herab blicken kann. Mit Sekt und Feuerwerk bewaffnet, wird das neue Jahr begrüßt. Der erhöhte Blick lässt tausende von bunten Raketen frei, bis der Rauch die Sicht nimmt. Hier wird und wurde heftig gefeiert, zum Leidwesen des Bauern, weil viel Unrat und leere Glasflaschen auf der Weide liegen blieben.
Trotz eisiger Winter, heftiger Stürme im Herbst und Gewitter mit Blitzeinschlägen, habe ich eine ereignisreiche und schöne Zeit hier oben. Zu meinem Fuße wurde so manches Picknick genossen, mit Blick auf den Kölner Dom. Ein Feierabendbierchen getrunken, sogar Eheversprechen eingegangen, es wurde geweint und gelacht. Ich kann euch sagen, ich habe vieles gesehen und erlebt.

Mehrmals haben mich junge Leute, zwar verbotener Weise, bestiegen, aber sie haben mit mir die ergreifende Aussicht geteilt, haben sogar einen Film gemacht um die Menschen Teil haben zu lassen. Ja, und sie haben gestaunt, als die Dunkelheit der Nacht verschwand, die Sonne am Horizont blinzelte und die pralle Schönheit der sattgrünen Wälder freigab. Bergisch grün in allen Schattierungen. Talsperren, die wie kleine goldene Spiegel erstrahlen, der funkelnde Rhein und die spiegelnde Wupper rahmen uns ein. Diesen wunderbareren Moment können wir nun teilen und jeder versteht, wie wunderbar unsere Heimat ist.
Jetzt stehe ich hier, verstehe die Welt nicht mehr.
Um mich herum ein seltsames geschäftiges Treiben, dann eine Ruhe, wie vor einem heftigen Sturm. Ich sehe sehr viele Menschen auf den umliegenden Straßen, Häusern und in Gärten, sie alle schauen mich an.
Eine Absperrung mit rot-weißem Band wird 300 Meter um mich herum gespannt, die letzten Autos werden aus dieser Zone gefahren und es herrscht eine lähmende Stille.
Die Sonne scheint, an diesem klaren Tag im Spätherbst.

Plötzlich, 2 Signale ertönen und darauf ein Knall, eine kleine Rauchwolke erhebt sich über das Feld. Zwei meiner stählernen Halteseile lösen sich, in ungewohnter Weise. Ich schwanke, kann mich nicht mehr gerade halten. Meine Spitze neigt sich, ich breche, ich falle.
Ich spüre meine 180 Tonnen Stahl zerfetzen, sich verformen.
Viele meiner 45.000 starken Schrauben knallen wie nichts aus meinem stählernen Mantel heraus.
Ich schlage ein, in den weichen Boden des Feldes.

Nun Stille…..das wars…..,
habe ausgedient…..

Copyright Regine Evertz